Podiumsdiskussionen: Ein Weg zur politischen Bildung für junge Erwachsene?
In Zeiten wachsendem Individualismus scheinen kollektive Belange und die Fähigkeit, sich für das Gemeinwohl zu engagieren in den Hintergrund zu rücken. Und wer sich trotzdem darum kümmert – wie z.B. Politiker*innen – wird argwöhnisch beobachtet und nicht selten mit Vorurteilen belegt. So müsste z.B. das Zerrbild der Politiker*innen als jemand, der auf einem individuellen Machttrip ist und gar nicht an das Gemeinwohl und die Erwartungen seiner Wähler*innen denkt, durch konkrete Kenntnisse des politischen Alltags berichtigt werden. An Schulen konzentriert man sich auf die Weitergabe von faktischem Wissen, was sicherlich eine der vier Flügel des Schmetterlings demokratischer Kompetenzen ist. Aber auch hier gilt: grau ist alle Theorie. Es ist also durchaus eine wesentliche Frage, wie man es schaffen kann, jungen Erwachsenen, die am Ende der Schulausbildung stehen und in den Alltag der Selbstständigkeit entlassen werden, eine positive Erfahrung mit politischer Teilhabe mit auf den Weg zu geben, in der Hoffnung ihr Interesse an gesellschafts-politischen Themen geweckt zu haben.
Podiumsdiskussion: ein ausbaufähiges Modell zur angewandten politischen Bildung
Eine erste gute Erfahrung mit Podiumsdiskussionen für Erstwähler*innen und Abiturient*innen hatten der RDJ, Infotreff, JIZ heute beide unter Jugendinfo zusammengefasst,Alteo und zwei Gewerkschaftspartner*innen bereits im Wahljahr 2014. Unter dem Motto „Wahldebatte ohne Kauderwelsch – Hier reden Politiker wie du und ich… einfach und verständlich!“, sollten auch die Politiker*innen darauf hingewiesen werden, dass sie selbst viel dafür tun können, Jungwähler*innen ihre Ideen näher zu bringen, wenn sie sich einer einfachen Sprache bedienen.
Leichte Sprache ist ein Konzept, das im Jahr 2016 wieder auf der Podiumsdiskussion zur Bilanz der ersten Hälfte der Regierungszeit angewandt und seither bei allen Podiumsdiskussionen berücksichtigt wurde.
Auf Grund dieser Vorerfahrungen sollte eine Neuauflage für Mai 2019 im Kontext der belgischen Gemeinschafts- und Föderal-, sowie der Europawahlen auf den Weg gebracht werden. Eine Podiumsdiskussion mit Spitzenpolitiker*innen aller zur Wahl stehenden Parteien für Abiturient*innen und eine weitere außerhalb des Schulkontextes für Erstwähler*innen wurden mit Erfolg organisiert, diesmal ohne die Gewerkschaftspartner*innen aber mit der zusätzlichen Unterstützung von Ocarina – der Jugendorganisation der christlichen Krankenkassen in Belgien – des IDP und des PDG. Sekundarschulen meldeten für den ersten Event 305 Teilnehmer*innen an. Bei der öffentlichen Veranstaltung im Parlament der Deutschsprachigen Gemeinschaft kamen nochmals 170 Erstwähler*innen freiwillig. Nicht nur für die jungen Erwachsenen war es eine gute Gelegenheit sich ein Bild über die Politiker *innen und ihre Parteiprogramme zu machen, sondern auch für die Politiker*innen mit Erstwähler*innen in Kontakt zu kommen.
Bei der späteren Evaluation der Podiumsdiskussion wurde dann eine grundlegende Frage aufgeworfen: Wieso organisieren wir solch eine Podiumsdiskussion nur zweimal pro Legislaturperiode? Was ist mit den Abiturjahrgängen, die dazwischen liegen? Diese sollten auch die Gelegenheit haben, Politiker*innen zu einem Austausch zu treffen. Politisches Handeln beschränkt sich ja nicht nur auf den Akt des Wählens. Es ist ein bewusster Umgang mit vielseitigen gesellschaftspolitischen Themen im Alltag, die zu diskutieren es bestimmter Kompetenzen bedarf.
Politische Bildung für (junge) Erwachse sollte sich ganz allgemein nicht nur auf die Erklärung formaler politischer Abläufe beschränken. Sie sollte einen möglichst direkten Einblick in die Praxis erlauben. Daher scheint uns die Podiumsdiskussion eine solide Basis zu sein, auf die man aufbauen kann.
Definition
Podiumsdiskussionen sind natürlich an sich keine Innovation. Es gibt sie praktisch zu allen aktuellen Themen. Die Zuschauer*innen können dabei auch eigene Fragen stellen. Die Podiumsdiskussion ist zudem eine Gelegenheit für ein interessiertes Publikum durch den öffentlichen Austausch unter Fachleuten etwas dazuzulernen. Es ist die Debatte der Fachleute, die einen inhaltlichen Mehrwert für das Publikum hervorbringt. Die Gestaltung einer solchen Podiumsdiskussion liegt so bei den Fachleuten, die durch vorbereitete Fragen einer fachkundigen Moderation miteinander diskutieren. Selbst wenn Zuschauer*innen oder Zuhörer*innen gegen Ende noch eine Frage stellen können, so ist ihre Rolle für die Diskussion eher nebensächlich.
Um solch eine Debatte unter Fachleuten in einen Austausch mit Fachleuten umzuformen und dadurch die demokratischen Kompetenzen aller Beteiligten fördern, muss die Gestaltung der Podiumsdiskussion dahingehend geändert werden, dass das Publikum eine proaktivere Rolle bekommt. Eine Möglichkeit ist, dass alle Fragen, die die Moderation stellt, ausschließlich vom Publikum erarbeitet und vorab eingeschickt werden. In diesem Fall ist der Mehrwert, der gemeinsam mit den Fachleuten geschaffen wird, nicht nur mehr Wissen, sondern auch aktive Teilhabe an der Gestaltung des Themas und damit politische Partizipation.
Der Praxischeck
Allerdings ist die praktische Umsetzung schwierig(er), als man denken möchte. Denn in unserem konkreten Fall würde die Verantwortung für die Erarbeitung der Fragen allein bei den ostbelgischen Abiturient*innen liegen, die bis dato eher weniger Berührungspunkte mit gesellschafts-politischen Diskursen, wie sie innerhalb der Politik geführt werden, hatten.. Gerade deshalb ist die Vorbereitung der Fragen (zeit-)aufwändiger, da die Jungwähler*innen sich zunächst mit der Thematik vertraut machen müssen, um auf dieser Grundlage ihre Fragen formulieren können. Dabei kann es durchaus sinnvoll sein, den betroffenen Lehrkräften im Vorfeld Unterrichtsmaterial zur Verfügung zu stellen, so dass diese ihre Schüler*innen gezielt vorbereiten können.
Wie sich gezeigt hat, ist eine interaktive Podiumsdiskussion also mit viel Aufwand verbunden: Ob Logistik, Technik, oder Erarbeitung von Konzepten und Materilaien. Alles kostet Zeit und Geld. Das Team beginnt in der Regel seine Vorbereitungen mit einem Vorlauf neun Monaten, damit dann alles glatt läuft.
Der Ablauf
Junge Erwachsene fragen – Politiker*innen antworten
Zuerst ist wichtig, dass dass die Jungwähler*innen Fragen an das Organisationsteam der Podiumsdiskussion schicken. Nichtsdestotrotz muss auch die Moderation zusätzliche Fragen vorbereiten, falls nicht ausreichend Fragen eingehen oder für den Fall, dass das Publikum in der freien Fragezeit keine Fragen stellt. Die Fragen müssen allerdings Themen behandeln, die für die Abiturient*innen und Erstwähler*innen relevant, d.h. dem Alters- und Wissenskontext des Publikums angepasst sind.
Damit Abiturient*innen Fragen fundiert formulieren können, unterstützt das Organisationsteam die Lehrkräfte mit verschiedenen kostenfreien Informationen und Materialien, die zur Vorbereitung der Abiturient*innen genutzt werden können.Überdies gibt es Workshops, die um die zwei Monate vor der Podiumsdisussion durchgeführt werden können. Das sollte auch denjenigen, die sich nicht in der Lage fühlen, einen solchen Unterricht vorzubereiten, ermöglichen, die Schüler*innen auf die Thematik vorzubereiten. Die in den Workshops entstandenen Fragen konnten dann in schriftlicher Form oder auch als Videoclip eingereicht werden, damit sie in der Moderation berücksichtigt wurden.
Moderation der Teilhabe, nicht des Wissens
- Die eingegangenen Fragen werden zuerst nach ihrer Relevanz für das Thema sortiert. Die Moderation des zweistündigen Events muss sich anschließend mit folgenden Punkten auseinandersetzen:
- Wie erfolgt die thematische Einführung?
- Wie schafft man einen roten Faden für die Veranstaltung?
- Wieviel Sprechzeit gibt es pro Politiker*in?
- Wie wie sichert man sich dauerhaft die Aufmerksamkeit der Jungwähler*innent
- Wie macht man die (verbleibenden) Sprechzeiten sichtbar?
In welcher Form sollen die Jungwähler*innen die Fragen stellen, damit sie die Teilhabe an der Veranstaltung verstärken? (-> Jugendliche ein Glücksrad drehen und die Frage direkt an die Politiker*innen stellen lassen, Objekte aus einem Sack ziehen lassen, Einsatz von Mentimeter, usw.)
Letztendlich geht es darum, den jungen Leuten durch ein rundes pädagogisches Konzept eine positive Erfahrung von demokratischer Kultur zu vermitteln, ganz im Sinne des europäischen Kompetenzrahmens für demokratische Kultur.
Die Podiumsdiskussion beruht also am Ende also erkennbar auf den Fragen des Zielpublikums, zudem werden einige der Fragen auch derart umformuliert, dass sie der Zielgruppe selbst gestellt werden können: entweder als eingesandte Videos oder mit Hilfe von einschlägigen Apps (Mentimeter, Kahoot, Slido, …)
Die Ergebnisse der Fragen an die Jungwähler*innen sind so visueller Form (Grafik, Word Clouds) sichtbar und werden dann von den Politiker*innen kommentiert.
Um weitere Abwechslung in die Veranstaltung zu bringen, sind auch Abstimmungen mit farblich gekennzeichneten Ja- und Nein-Karten möglich, , sowohl seitens der Jungwähler*innen, als auch der Politiker*innen.
Eine bisweilen launige Möglichkeit, die Veranstaltung aufzulockern, ist es auch, die Politiker*innen eine Karte ziehen zu lassen, auf der ein halber Satz steht, der zu vervollständigen ist, wie z.B. „Wenn ich die Wahlen verliere, bin ich …“ oder „Opposition bedeutet …“.. Auch zu Beginn der Veranstaltung kann man Politiker*innen Karten mit Begrifflichkeiten ziehen lassen, die für die anstehende Debatte wichtig sind. Jede*r Politiker*in muss dann den Begriff, der gezogen wurde, erklären. So sind sie in einer Art Prüfungssituation, die Jugendlichen aus ihrem Alltag kennen. Das schafft Empathie zwischen Publikum und Politiker*innen.
Freie Fragezeit rundet dann den Austausch ab, weil oft auch Fragen gestellt werden, die nichts mit dem Thema der Podiumsdiskussion zu tun haben, die die Jugendlichen dennoch interessieren.
Verständlichkeit
Die Antworten der Politiker*innen sollten zu jeder Zeit für das Publikum verständlich bleiben, sonst driftet die Konzentration der Jungwähler*innen ab, auch wenn die Fragen von ihnen selbst kommen. Die Moderation bzw. das Organisationsteam muss daher zu Beginn ausdrücklich auf die Pflicht des Gebrauchs der einfachen Sprache, oder einer für die Jugendlichen verständlichen Sprache, hinweisen und erklären wie Verstöße „geahndet“ werden. Das kann über Nachhaken bei Fremdwörtern durch die Moderation oder durch im Publikum verteilte Schilder mit der Aufschrift „Halt! Leichte Sprache“ oder durch technische Mittel wie Tonsignale erfolgen, die die Politiker*innen auf ihre zu abgehobene Sprachwahl aufmerksam machen.
Variation der Themen zwischen den Wahljahren
Die Themen, die das Konsortium zwischen den Wahljahren 2019 bis 2024 zur Debatte gestellt hat, variieren. 2020 ging es um den Alltag der Politiker*innen. Ziel war es, Vorurteile über politische Arbeit abzubauen, indem sich die Jugendlichen ein konkretes Bild der Arbeit der Regierung, des Parlaments und der Rolle der Opposition machen konnten. Wenn die Word Cloud aus den Antworten der Jungwähler*innen bei der Aufwärmfrage „Was bedeutet Politik für Dich in einem Wort?“ ergeben, dass das Wort Geld fast noch größer ist als Demokratie, dann ist klar, dass eine Informationsschieflage vorliegt, die am Ende der Podiumsdiskussion geradegerückt sein sollte.
2021 war es wegen der Pandemie nicht möglich, einen direkten Austausch zwischen Jugendlichen und Politiker*innen zu veranstalten. Stattdessen fand eine Hybridversion statt, wobei sich das Organisationsteam und die sechs Politiker*innen im Plenarsaal des Parlaments befanden, und die Jungwähler per Zoom dazugeschaltet wurden. Thema war: Wie geht Politik in Krisenzeiten? Denn viele Menschen fragten sich, ob außer der Pandemiebekämpfung überhaupt noch andere wichtige Probleme von der Politik behandelt wurden.
2022 experimentierten die Organisatoren mit einem völligen neuen Format, da die Jugendlichen in ihren Evaluationen der vorangegangenen Podiumsdiskussionen nach noch mehr Teilhabe verlangten. Die Wahl fiel auf ein interaktives politisches Theaterstück des Brachland-Ensembles mit dem Titel “Lokal Europa”. Dieses Theaterstück mit offenem Ausgang spielte in einer Kneipe. Alle Besucher*innen waren an Tischen im Theatersaal verteilt. Als das Stück die unerwartete Wende nahm, dass die Besucher*innen das Europaparlament ersetzen müssen, waren alle gemeinsam in der konkreten Situation, auf Basis einer tischinternen Diskussion Kompromisse zu finden, sie vorne an der Theke vorzutragen und gemeinsam mit allen in der Kneipe darüber abzustimmen, welcher Weg eingeschlagen wurde. Die Erkenntnis, dass es gar nicht so einfach ist, Kompromisse zu finden, und dass es viel Wissen und Diplomatie braucht, um sich durchzusetzen, wurde als wertvolle Erfahrung von den Jugendlichen mitgenommen. Für die Organisator*innen der Veranstaltung war es eine Gelegenheit Europa zum Thema zu machen, was bis dato noch nie der Fall gewesen war.
2023 wurde “Wie geht Politik?” nicht angeboten, da im selben Jahr und ungefähr zum gleichen Zeitraum zum ersten Mal das Jugendparlament tagte, das mit entsprechendem Aufwand für die Organisatoren durchgeführt wurde.
2024 standen erneut die Gemeinschafts-, Föderal- und Europawahlen an. Zum ersten Mal wurde
eine zusätzliche Veranstaltung speziell für die 16-Jährigen zu den Europawahlen konzipiert, denn diese Altersgruppe war in Belgien zum ersten Mal verpflichtet, bei den Europawahlen zu wählen. 350 Jugendliche wurden zu dem interaktiven Austausch mit den Kandidat*innen zur Europawahl angemeldet. Dazu kam dann die schon altbekannte “Wie geht Politik?” Podiumsdiskussion für die Abschlussklassen und Jungwähler*innen mit einer zusätzlichen Veranstaltung für Erstwähler*innen. Die drei Veranstaltungen wurden von knapp 1.000 jugendlichen Wähler*innen besucht, d.h. alle Abiturient*innen waren diesmal mit dabei, was durchaus bemerkenswert ist..
Zusammenfassung
Die Podiumsdiskussion ist seit 2020 ein fester jährlichen Programmpunkt für das 5. und 6. Jahr der Sekundarschule. Sie ist nicht verpflichtend, gerade deshalb ist es schön zu sehen, dass das Interesse an diesem Angebot von Jahr zu Jahr wächst. Denn die Idee dahinter ist es, den Kontakt zwischen Jungwähler*innen und Politiker*innen sowie den politischen Institutionen zu verbessern, die Ablehnung politischer Institutionen durch eigene Teilhabe zu verringern und die Kommunikation zu verbessern.
Die Erarbeitung des Themas im Vorhinein sowie die Formulierung und Einsendung von Fragen sind didaktische Etappen, die Jungwähler*innen das Selbstvertrauen geben sollen, sich einer solchen Diskussion zu stellen und zu erleben, dass Teilnahme zu Antworten auf die eigenen Fragen führt. Die positive Erfahrung im Umgang mit Politiker*innen eröffnet neue Horizonte, weil sie zeigt, dass jeder, der gut informiert ist, bei einer Diskussion etwas beitragen kann und Neues mitnimmt. Es ist ein Moment, Klischees und Vorurteile zu überprüfen und zu hinterfragen. Dieser Austausch trägt zu einer gewissen Normalität im Umgang mit Politik und Politiker*innen bei und kann letztendlich bei jungen Erwachsenen wieder mehr Interesse an Politik wecken.
Politische Bildung durch diesen Prozess beruht in gewisser Weise auf einem Stufenprinzip. Denn wer schon einmal im Parlament der Deutschsprachigen Gemeinschaft war, kann sich den politischen Alltag der Debatten dort plastisch vorstellen. Wer schon einmal aktiv an einer Podiumsdiskussion teilgenommen hat, traut sich auch in anderen Kontexten eher an Debatten teilzunehmen. Die Kompetenz des sich Einmischens in öffentliche Diskussionen bei guter Kenntnis der Fakten, also die echte Teilhabe an der res publica – den öffentlichen Angelegenheiten – wird dadurch gefördert.
Letztes Update: 03. September 2024